Aspirin zur Prävention

Ist heute die Einnahme von Aspirin zur Prävention des kolorektalen Karzinoms bei Personen mit einem HNPCC / Lynch-Syndrom empfehlenswert?

Long-term effect of aspirin on cancer risk in carriers of hereditary colorectal cancer: an analysis from the CAPP2 randomised controlled trial

John Burn, Anne-Marie Gerdes, Finlay Macrae, Jukka-Pekka Mecklin, Gabriela Moeslein, Sylviane Olschwang, Diane Eccles, D Gareth Evans, Eamonn R Maher, Lucio Bertario, Marie-Luise Bisgaard, Malcolm G Dunlop, Judy W C Ho, Shirley V Hodgson, Annika Lindblom, Jan Lubinski, Patrick J Morrison, Victoria Murday, Raj Ramesar, Lucy Side, Rodney J Scott, Huw J W Thomas, Hans F Vasen, Gail Barker, Gillian Crawford, Faye Elliott, Mohammad Movahedi, Kirsi Pylvanainen, Juul T Wijnen, Riccardo Fodde, Henry T Lynch, John C Mathers, D Timothy Bishop, on behalf of the CAPP2 Investigators www.thelancet.com

Published online October 28-2011

Lancet. 2011 Dec 17;378(9809):2081-7.

 

Einführung in das Thema

Vorsorge ist besser als Therapie – diese Weisheit gewinnt an Bedeutung in Anbetracht einer älter werdenden Bevölkerung und einer enormen Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Dennoch ist die Öffentlichkeit träge und selbst Ärzte sind schwer zur Motivation zu motivieren. Jenseits der invasiven und nicht-invasiven Vorsorge und Früherkennung, deren Stellenwert etabliert ist und die den Weg in die S3-Leitlinien für das kolorektale Karzinom gefunden haben, spielen Lifestyle Faktoren wie körperliche Bewegung und Ernährung eine nicht gut definierte präventive Rolle. Zwischen Jogging und den endoskopischen Verfahren liegt die Chance einer Chemoprävention.

Ganz unterschiedliche Substanzen werden historisch als präventiv wirksam beschrieben, aber sie haben sich alle keinen gesicherten Platz in der etablierten Gesundheitsvorsorge erkämpft. Die Liste interessanter, leicht beziehbarer Substanzen umfasst Kalzium und Vitamin D, Ballaststoffe, Fischöl, Probiotika und Kurkuma. Vor allem für Fischöl und Kurkuma liegen beweiskräftige Studien vor, die nachgewiesenermaßen zu einer Reduktion der adenomatösen Vorstufen führen1,2.

 

Aspirin (ASS)

Frühe Studien

Aspirin und ähnliche Substanzen (nicht-steroidale Antiphlogistika NSAIDs) rückten 1988 nach einem Bericht von Kune et al.3 in den Fokus des klinischen Interesses, als er die Ergebnisse einer Fallkontrollstudie in Melbourne publizierte, bei der Personen unter Aspirineinnahme signifikant weniger kolorektale Karzinome ausbildeten, als Abstinenzler. Nachfolgende Analysen bei 662,424 Männern und Frauen zeigten nach einer 6-jährigen Beobachtungszeit ein um 40% reduziertes Risiko, an einem kolorektalen Karzinom zu sterben4. Zahlreiche weitere epidemiologische und Fall-Kontroll-Studien untermauerten diese Beobachtung (z.B. Giovannucci et al 19955, Jacobs et al 20076). Metaanalysen führten zu der Schlussfolgerung, dass regelmäßige Aspirin-Nutzer ein 40 – 50% niedrigeres kolorektales Karzinomrisiko aufwiesen als alters- und geschlechtsadaptierte Vergleichskollektive. Diese und andere Studien deuteten auch darauf hin, dass eine längere Einnahme der Substanz die antineoplastische Wirkung verstärkte7.

Trotzdem wird Aspirin für die Bevölkerung mit einem „normalen“ Krebserkrankungsrisikos wegen des bekannten Nebenwirkungsprofils (noch) nicht empfohlen!

Untersuchung des Aspirin-Effektes in einer Hochriskopopulation mit einem gesicherten genetischen Risiko und einer beschleunigten Karzinogenese (Lynch Syndrom)

 

Long-term effect of aspirin on cancer risk in carriers of hereditary colorectal cancer: an analysis from the CAPP2 randomised controlled trial

John Burn et al.

Die CAPP 2 – Studie ist die erste prospektiv-randomisierte Aspirin-Studie mit Karzinomprävention als primären Endpunkt. Über 80% der rekrutierten Probanden waren moleklargenetisch charakterisiert als Träger eines Defekts in dem Mismatch-Reparatur-System (MMR). Alle weiteren wurden aus Lynch-Syndrom Familien rekrutiert, mit einer entsprechend charakteristischen Karzinomkonstellation (Amsterdamer Kriterien). Ein faktorielles Studiendesign wurde umgesetzt mit magenresistenten Aspirintabletten und Placebotabletten sowie Novelose (Maisstärke) und Placebopulver.

Von 1009 randomisierten Probanden begannen 937 mit der Behandlung und stellten die Basis für die Analyse dar. Nach Beendigung der 2 oder 4-jährigen Interventionsphase zeigte die Datenanalyse keinen Unterschied in der Rate kolorektaler Adenome oder Karzinome über eine mittlere Behandlungsdauer von 29 Monaten23. Das Studiendesign sah eine weitere Langzeitbeobachtung der Probanden vor. Nachdem die ersten Probanden eine 10-jährige Studiendauer aufwiesen erfolgte eine neuerliche Datenanalyse. Zu betonen ist die Tatsache, dass dieser Personenkreis in 1-2 jährigen Abständen koloskopiert und polypektomiert wurde wegen der bekannten Hochrisikokonstellation. Nach durchschnittlich 55,7 Monaten entwickelten dennoch 48 Studienpersonen insgesamt 53 primäre kolorektale Karzinome (18 Personen mit 19 CRC/427 die zu einer Aspirineinnahme randomisiert wurden und 30 Personen mit 34 CRC/434 Aspirin Placebo).

Intention to treat Analyse (ITT) von dem Zeitpunkt des ersten CRC zeigte eine hazard ratio (HR) von 0.63 (95% CI 0·35-1·13,p=0·12). Poisson Regression unter Berücksichtigung der multiplen primären Ereignisse ergab eine Incidence Rate Ratio (IRR) von 0·56 (CI 0·32-0·99, p=0·05). Der primäre Studienendpunkt war die Anzahl, Größe und das Stadium der CRC nach einer zweijährigen Aspirineinnahme. Diese “per protocol” Analyse zeigte eine HR von 0·41 (CI 0·19-0·86, p=0·02) und eine IRR von 0·37 (CI 0·18–0·78, p= 0·008). Eine sekundäre Analyse zeigte weniger LS-Assoziierte Karzinome bei Patienten mit einer Aspirineinnahme von mindestens zwei Jahren (IRR = 0·42 CI 0·25-0·72, p=0·001). Eine negativ-Assoziation zwischen LS-Karzinominzidenz und Gesamtanzahl eingenommenen Aspirins wurde festgestellt (p=0.002), oder in anderen Worten je mehr Aspirin eingenommen wurde, desto deutlicher die Reduktion an Karzinomen.

Die Autoren empfehlen allen Lynch-Syndrom Patienten und nachgewiesenen Mutationsträgern eine Aspirineinnahme. Dabei ist man sich einig, dass eine generelle Empfehlung zur Einnahme von 600 mg Aspirin täglich (wie in dieser Studie verabreicht) zunächst nicht generell empfohlen werden kann wegen des bekannten Nebenwirkungsprofils der Substanz. Demnächst wird die internationale CAPP3 Studie als Dosisfindungsstudie (does-inferiority study) beginnen, zu deren Teilnahme auch wieder deutsche Patienten eingeladen werden (www.capp3.de). Dabei ist es unerheblich, ob bereits jetzt –also vor einer Studienrekrutierung- mit der Aspirineinnahme begonnen wird. Diese ist aufgrund der signifikanten Studienergebnisse für das Hochrisikokollektiv zu empfehlen, zumal der Aspirineffekt genauso wirkungsvoll wie die jährlichen Koloskopien ist! Interessierte sollten die Aspirineinnahme mit ihrem Hausarzt oder Gastroenterologen besprechen und mit einer cardialen Dosierung von 75-100mg täglich beginnen. Dabei ist eine initiale Blutbildkontrolle und ggf eine H. pylori Eradikation vor Aspirineinnahme zu diskutieren.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass eine niedrigere Dosierung (75 – 100 mg versus CAPP-2 Studiendosierung von 600 mg täglich) von Aspirin auch die Rate an Nebenwirkungen verringern wird. Eine individuelle Toleranz der Aspirinwirkungen und –nebenwirkungen wird Gegenstand weiterer Studien sein.

Zusammenfassung und Empfehlung

Über 600.000 Menschen weltweit sterben jährlich an einem kolorektalen Karzinom24, wodurch das Thema eine hohe Priorisierung verdient. Obwohl bislang die Daten zu der chemopräventiven Wirkung von Aspirin bei sporadischen kolorektalen Neoplasien fast einhellig eine erhebliche Reduktion der Neoplasien des Kolorektums aufzeigen, so fehlt für eine evidenzbasierte Empfehlung bislang die zu fordernde prospektiv-randomisierte Studie, mit dem kolorektalen Karzinom als primären Studienendpunkt. In Anbetracht der hierfür erforderlichen jahrezehntelangen Studie wird eine solche Studie in den kommenden Jahren sicher nicht publiziert werden. Was also, kann in Anbetracht der zahlreichen Studien, die auf einen Nutzen von Aspirineinnahme hindeuten empfohlen werden?

Zunächst ist festzustellen, dass mit der Publikation der Langzeitergebnisse der CAPP-2 Studie von J. Burn et al. erstmalig die geforderte prospektiv-randomisierte Studie mit dem CRC als primären Endpunkt vorliegt und einen signifikanten Effekt von Aspirin nachgewiesen hat – allerdings in dem Hochrisikokollektiv der Lynch-Syndrom-Patienten. Der signifikante präventive Effekt von Aspirin ist beeindruckend und betrifft nicht nur das kolorektale Karzinom, sonder alle assoziierten Karzinome. Da bei Patienten mit einer Mutation in den MMR-Genen das Lebenszeitrisiko für ein CRC bei 70% liegt, aber auch andere Karzinome, vor allem des Uterus, Dünndarms, Magens, Blase, Brust u.a. erheblich erhöht ist, ist mit diesen Ergebnissen die Rationale für die Empfehlung einer routinemäßigen Aspirineinnahme gegeben. Lynch-Syndrom Patienten sollten sich in 1-2 jährlichen Abständen einer kompletten Koloskopie unterziehen, beginnend im Alter von 20 – 25 Jahren. Diese Vorsorge scheint effizient zu sein, allerdings birgt sie Risiken und kann CRCs aufgrund der biologischen Charakteristika einer sehr beschleunigten Adenom-Karzinom-Sequenz nur zu einem Prozentsatz vermeiden. Das verbleibende kolorektale Karzonomrisiko trotz der invasiven Vorsorge liegt bei ca. 6% in 10 Jahren25 und war in der hier beschriebenen CAPP-2 Studie an der hoch-spezialisierte Zentren teilnahmen sogar 7% in einem Zeitraum von nur 4-6 Jahren (!), trotz regelmäßiger, intensivierter Vorsorge. Die Wahrscheinlichkeit, dass die geforderte prospektiv-randomisierte Studie in der Allgemeinbevölkerung jemals stattfinden wird ist gering.

Erlaubt die Langzeitstudie von J. Burn und Kollegen den Schluss einer generellen Empfehlung für eine Zulassung von Aspirin für die präventiv-onkologische Indikation? Isoliert betrachtet nicht. Für Lynch-Syndrom Patienten allerdings deutet diese Studie auf einen relevanten Benefit einer Aspirineinnahme hin, unter Beibehaltung der empfohlenen erweiterten Vorsorge, die in Deutschland jährlich empfohlen wird.

 

References

1. Baron JA, Beach M, Mandel JS, van Stolk RU, Haile RW, Sandler RS, et al. Calcium Supplements for the Prevention of Colorectal Adenomas. N Engl J Med. 1999; 340(2): 101-7.

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3. Kune GA, Kune S, Watson LF. Colorectal cancer risk, chronic illness, operations, medications: case control results from the Melbourne Colorectal Cancer Study. Cancer Research. 1988; 48: 4399-404.

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